Der anderweitige Erwerb und seine Ermittlung – Teil I

Nach der Kündigung eines Werkvertrags steht dem Unternehmer in vielen Fällen die „große“ Kündigungsvergütung zu. Das bedeutet, er hat Anspruch auf die vereinbarte Vergütung abzüglich seiner ersparten Aufwendungen und desjenigen, was er durch die „anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft“ erworben hat.

Über den zweiten Abzugsposten, den anderweitigen Erwerb, herrscht in Rechtsprechung und Literatur bemerkenswerte Unklarheit. Der vorliegende Beitrag untersucht in seinem Teil I die Frage, wann ein Werkunternehmer nach einer Kündigung anderweitigen Erwerb erzielt hat. In Teil II (im nächsten Heft) wird dargestellt, wie dieser anderweitige Erwerb der Höhe nach zu ermitteln und abzurechnen ist.

I. Einleitung

1. Die „große“ Kündigungsvergütung

Die Kündigung eines Werkvertrags hat die Folge, dass der Unternehmer diejenigen Leistungen, auf die sich die Kündigung bezieht, nicht mehr erbringen muss. Hatte der Unternehmer mit den Arbeiten schon begonnen und damit schon einen Teil der Vergütung verdient, (1) führt die Kündigung zur Aufteilung der im Vertrag vereinbarten Leistungen, nämlich in erbrachte Leistungen (im Folgenden auch EL abgekürzt) und nicht erbrachte Leistungen bzw. nicht mehr zu erbringende Leistungen (im Folgenden auch NEL abgekürzt). Von einer Teilkündigung spricht man, wenn die Leistungspflicht des Unternehmers nicht hinsichtlich sämtlicher Leistungen, die im Zeitpunkt der Kündigung noch offen sind, beendet werden soll, sondern nur hinsichtlich eines Teils hiervon, während der Unternehmer hinsichtlich anderer NEL noch in der Pflicht bleibt. (2)

Die Kündigung eines Werkvertrags kann sich unterschiedlich auf die Vergütung des Unternehmers auswirken. Sie kann dazu führen, dass er nur noch Anspruch auf Vergütung seiner EL hat. Dieser insbesondere § 645 Abs. 1 Satz 1 und § 648a Abs. 5 BGB vorgesehene Fall wird hier als „kleine“ Kündigungsvergütung bezeichnet. Hat der Unternehmer nach der Kündigung weiterhin Anspruch auf die vollständige vereinbarte Vergütung – auch soweit sie die NEL abgilt – abzüglich ersparter Aufwendungen und des anderweitigen Erwerbs, so wird dies als „große“ Kündigungsvergütung bezeichnet. Sie ist als Kündigungsfolge in § 648 und § 650f Abs. 5 BGB vorgesehen.

Große und kleine Kündigungsvergütung unterscheiden sich nicht nur der Höhe nach, sondern auch in der Beweislast, wenn der Leistungsstand des Unternehmers umstritten ist: Kann der Unternehmer nur die kleine Kündigungsvergütung beanspruchen, so hat er seinen Leistungsstand, also den Umfang seiner EL, darzulegen und zu beweisen. Steht ihm hingegen die große Kündigungsvergütung zu, kommt es auf den von ihm erreichten Leistungsstand nicht unmittelbar an, denn schließlich hat er Anspruch auf die gesamte vereinbarte Vergütung, auch soweit sie die NEL erfasst. Der Leistungsstand ist nur indirekt von Bedeutung, da der Umfang der NEL in der Regel von Relevanz für die ersparten Aufwendungen und den anderweitigen Erwerb des Unternehmers ist. Im Streitfall hat aber der Besteller die Höhe dieser Abzugsposten zu beweisen. (3) Somit ist die große Kündigungsvergütung für den Unternehmer nicht nur deshalb günstiger, weil sie mehr Vergütungspositionen umfasst, sondern auch wegen der für ihn besseren Beweislastverteilung im Höhenstreit.

In welchen Fällen dem Unternehmer die große Kündigungsvergütung zusteht, ist im Gesetz teilweise missverständlich geregelt. Ausdrücklich vorgesehen ist sie nach der freien Kündigung eines Werkvertrags durch den Besteller (§ 648 BGB) und nach der Kündigung des Unternehmers gem. § 650f Abs. 5 BGB. Darüber hinaus ist aber zu Recht anerkannt, dass dem Unternehmer die große Kündigungsvergütung auch dann zusteht, wenn er den Werkvertrag aus einem wichtigen Grund kündigt, den der Besteller zu vertreten hat. (4) Die Unternehmerkündigung aus § 650f Abs. 5 BGB ist nur ein Sonderfall dieser Regel, (5) die auch in § 326 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommt. In § 648a Abs. 5 BGB n.F. hat der Gesetzgeber diese Erkenntnis übersehen, indem bei der Kündigung eines Werkvertrags aus wichtigem Grund generell die kleine Kündigungsvergütung als Rechtsfolge vorgesehen ist. Diese Norm ist folglich entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen, dass der Unternehmer, wenn er den Vertrag berechtigt wegen eines vom Besteller zu vertretenden Grundes kündigt, Anspruch auf die große Kündigungsvergütung hat. (6)

2. Der anderweitige Erwerb

Die große Kündigungsvergütung zeichnet sich also dadurch aus, dass dem Unternehmer auch die Vergütung NEL zusteht, er sich hiervon aber ersparte Aufwendungen (im Folgenden auch mit EA abgekürzt) abziehen lassen muss und dasjenige, was er durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Dieser zweite Abzugsposten wird im Folgenden kurz als anderweitiger Erwerb bezeichnet (auch mit AWE abgekürzt). Dabei muss man aber im Hinterkopf behalten, dass dies in zweifacher Hinsicht eine Vereinfachung darstellt: Tatsächlich spricht das Gesetz nicht von AWE im Allgemeinen, sondern nur vom Erwerb aus der anderweitigen Verwendung des Produktionsmittels Arbeitskraft. (7) Außerdem hat sich der Unternehmer nicht nur den tatsächlich erzielten AWE abziehen zu lassen, sondern auch „böswillig“ unterlassenen.

a) Situation in der Rechtsprechung

Nach der Wahrnehmung des Verf. spielt der AWE in Rechtsstreitigkeiten um die Kündigungsvergütung gegenwärtig meistens keine Rolle. Das dürfte damit zusammenhängen, dass es in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine konkreten Vorgaben gibt, wie dieser Begriff auf einen konkreten Fall anzuwenden ist. Zwar betont der BGH, der Unternehmer habe vorzutragen, „welchen anderweitigen Erwerbs er sich anrechnen lassen muss“.8 Wann AWE aber tatsächlich vorliegt und wie er der Höhe nach zu ermitteln ist, hat der BGH aber bislang nicht näher entschieden, er hat sich lediglich auf die negative Aussage beschränkt, der Unternehmer müsse jedenfalls nicht „seine gesamte Geschäftsstruktur offen legen“.9 Diese vagen Aussagen haben dazu geführt, dass sich in Abrechnungen und Prozessvortrag von Werkunternehmern in aller Regel überhaupt keine Angaben zu AWE finden und auch die meisten Entscheidungen von Instanzgerichten hierauf nicht eingehen, geschweige denn einen Abzug aus diesem Grund vornehmen. (10)

Eine solche Rechtsprechungspraxis ist nicht überzeugend. Vielmehr steht zu erwarten, dass ein gekündigter Unternehmer durch die kündigungsbedingte Freisetzung seiner Arbeitskräfte jedenfalls im Regelfall in einem gewissem Umfang AWE erzielen kann. Die Möglichkeit hierzu hängt nicht nur von der wirtschaftlichen Lage im Betrieb des Unternehmers, also seiner Auslastung, ab, sondern auch davon, ob ein Vertrag eher zu Beginn oder gegen Ende seiner Ausführungszeit gekündigt wird. Je früher die Kündigung erfolgt, desto umfangreicher sind die hierdurch vom Vertrag freigestellten Produktionskapazitäten, die das Potential bilden, mit denen der Unternehmer anderweitig Umsatz erzielen kann11 – wenn es auch vielleicht nicht in vollem Umfang aktiviert werden kann. (12)

Erst recht problematisch ist die faktische Ausblendung von AWE in Kündigungsprozessen, wenn man sich die wirtschaftliche Situation in den vergangenen Jahren vor Augen hält. Sie hat zu einer hohen Auslastung der meisten am Markt tätigen Bauunternehmern und auch der Werkunternehmer in anderen Branchen geführt. Je stärker ausgelastet aber ein Unternehmen ist, desto weniger plausibel ist seine Behauptung, nach der Kündigung eines Werkvertrags mit den freigestellten Produktionskapazitäten keinen AWE erzielt zu haben.

b) „Füllauftrag“, Vollauslastung und Rentabilitätsvermutung

Im Zusammenhang mit der Prüfung von AWE wird häufig der Begriff des „Füll-“ oder „Ersatzauftrags“ verwendet. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass dieser Begriff zur Klärung der Frage, ob ein Unternehmer AWE erzielt hat, untauglich ist. Stattdessen kann der Begriff des AWE nur dann sinnvoll angewendet werden, wenn im Ausgangspunkt von der durchgängigen vollständigen Auslastung der Produktionskapazitäten eines Werkunternehmers ausgegangen wird. Dieser Grundsatz der Vollauslastung dürfte insbesondere in den letzten Jahren auch der Betriebssituation der meisten Werkunternehmer, insbesondere der Bauunternehmer, entsprochen haben. Der Grundsatz findet seine Rechtfertigung aber nicht in dieser makroökonomischen Realität, sondern darin, dass nur mit seiner Hilfe der Rechtsbegriff des anderweitigen Erwerbs sinnvoll in der Praxis angewendet werden kann. (13)

Im Interesse einer praktikablen Ermittlung von AWE bedarf es noch einer weiteren Grundannahme für die Ermittlung des AWE, nämlich einer Rentabilitätsvermutung. Damit ist die Vermutung gemeint, dass ein Unternehmer durch den Einsatz seiner Arbeitskräfte jedenfalls die hierdurch verursachten zeitbezogenen Kosten decken kann.

3. Gang der Untersuchung

Der Gang der vorliegenden Untersuchung ist wie folgt:

Zunächst wird die Bedeutung der beiden Abzugsposten der großen Kündigungsvergütung – ersparte Aufwendungen und anderweitiger Erwerb – erläutert. (14) Sodann wird die Frage behandelt, wann ein Werkunternehmer dem Grunde nach anderweitigen Erwerb erzielt hat. (15)

Sodann wird dargestellt, wie sich dieser der Höhe nach beziffern lässt16 und welche Schlussfolgerungen sich hieraus für die Abrechnung der großen Kündigungsvergütung und die Erstdarlegungslast des Unternehmers in Rechtsstreitigkeiten ergeben. (17)

Schließlich werden die gewonnenen Erkenntnisse auf einige Gerichtsentscheidungen der jüngeren Vergangenheit angewendet. (18)

Die Untersuchung ist um einen anschaulichen Sprachstil bemüht. Allerdings erfordert ihr nicht ganz einfaches Thema eine mitunter etwas sperrige und vielleicht ungewohnte Terminologie. Um den Umgang mit ihr zu erleichtern, werden für häufig verwendete Begriffe auch im Fließtext Abkürzungen verwendet. Von besonderer Bedeutung werden die Begriffe der kündigungsbedingt entfallenen Vertragsdauer (EVD) und der kündigungsbedingt entfallenen Arbeitslast (EAL) sein.

Auch wenn die nachfolgende Untersuchung etwas länger sein mag: An ihrem Ende wird eine einfache Vorgehensweise stehen, mit der der AWE eines Werkunternehmers sachgerecht in der Praxis bestimmt werden kann. Sie wird es insbesondere erlauben, den AWE zu ermitteln, ohne „außervertragliche Umstände“ klären zu müssen, die die Rechtsbeziehungen des gekündigten Unternehmers zu anderen Auftraggebern betreffen, wie insbesondere: Über welche anderen Aufträge verfügte der Unternehmer bei und nach der Kündigung noch? Wann wurden ihm diese erteilt? Welche zeitliche Flexibilität bestand bei ihrer Abarbeitung? Welche Umsätze konnte der Unternehmer dort erzielen? Diese Fragen, die häufig mit dem Begriff des „Füllauftrags“ in Verbindung gebracht werden, können im Rechtsstreit um eine Kündigungsvergütung – wenn überhaupt – nicht mit vertretbarem Aufwand aufgeklärt werden, geschweige denn, dass der beweisbelastete Besteller hierzu Näheres vortragen könnte. Es wird sich zeigen, dass dies in aller Regel auch gar nicht erforderlich ist, weil sie irrelevant sind.


- Ende des Auszugs -

Der vollständige Aufsatz „Der anderweitige Erwerb und seine Ermittlung – Teil I von Björn Retzlaff, Vorsitzender Richter am Kammergericht, erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2023, S. 1168, Heft 6)Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.


 

1 … was meistens, aber nicht immer der Fall ist.
2 § 648a Abs. 2 BGB regelt die Teilkündigung nur für den Sonderfall, dass sie aus wichtigem Grund erklärt wird. 
3 BGH, Urt. v. 05.05.2011 – VII ZR 181/10; Urt. v. 11.02.1999 – VII ZR 399/97. 
4 BGH, Urt. v. 24.02.2005 – VII ZR 225/03. 
5 … denn hier hat der Besteller ebenfalls den Kündigungsgrund zu vertreten.
6 Dass der Unternehmer in diesem Fall gem. § 648a Abs. 6 BGB einen Schadensersatzanspruch gegen den Besteller haben mag, lässt das Bedürfnis hierzu nicht entfallen, da bei einem Schadensersatzanspruch die Beweislast für den Unternehmer ungünstiger ist als bei der großen Kündigungsvergütung. Auch bei der Zinshöhe kommt der Unterschied zwischen einem Vergütungs- bzw. Entgelt- und einem Schadensersatzanspruch zum Tragen, vgl. § 288 Abs. 1 und 2 BGB. 
7 Von AWE, der mit anderen Produktionsmitteln erzielt wird, also insb. mit Geräten oder Material, ist nicht die Rede.
8 BGH, Urt. v. 06.03.2014 – VII ZR 349/12, Rdnr. 21; Urt. v. 11.02.1999 – VII ZR 399/97, Rdnr. 9; Urt. v. 06.03.1997 – VII ZR 47/96. 
9 BGH, Urt. v. 28.10.1999 – VII ZR 326/98, Rdnr. 17. 
10 Der Verf. kann sich hier selbst nicht ausnehmen, vgl. das von ihm stammende Urt. des Kammergerichts v. 15.06.2016 – 21 U 140/17, Rdnr. 46 ff. Die dortigen Ausführungen zum AWE und seiner Abrechnung hält der Verf. nicht mehr für zutreffend, vgl. VI. 2. (Teil II).
11 Dieses Potential wird unten als entfallene Arbeitslast (EAL) bezeichnet, vgl. IV.1 (Teil II). 
12 Dies wird unten als eingeschränkte Aktivierung der EAL bezeichnet werden, vgl. IV. 1 b) (Teil II).
13 Vgl. III.3. Er handelt sich nur um einen Grundsatz für die Erstdarlegung der Kündigungsvergütung. Der Unternehmer kann ihn widerlegen, wenn er tatsächlich nicht voll ausgelastet war.
14 Unten II.
15 Unten III.
16 Unten IV.
17 Unten V.
18 Unten VI.