Der anderweitige Erwerb und seine Ermittlung – Teil II

Fortsetzung des ersten Teils

IV. In welcher Höhe ist anderweitiger Erwerb anzurechnen?

Anderweitiger Erwerb ist also der Umsatz, den der Unternehmer durch die Verwendung der kündigungsbedingt freigestellten Arbeitskräfte seines Unternehmens51 innerhalb der EVD mit anderen Aufträgen erzielt, gleichgültig wann und aus welchem Grund ihm diese anderen Aufträge erteilt wurden.

Daraus folgt, dass es sich bei dem anzurechnenden AWE um ein Produkt handelt, das sich aus zwei Faktoren zusammensetzt: Dem Zeitfaktor T, also der kumulierten Gesamtzahl der Stunden, in denen der Unternehmer aufgrund der Kündigung anderweitig Umsatz erzielen konnte, und dem Wertansatz A, der den Umsatz angibt, den der Unternehmer durch die anderweitige Verwendung seiner Arbeitskräfte pro Stunde erzielen konnte.

Es gilt also AWE = A x T, genau wie bei der Entschädigung aus § 642 BGB, die ebenfalls als ein solches Produkt zu berechnen ist.52 Zwar handelt es sich bei der Entschädigung aus § 642 BGB um einen Anspruch des Unternehmers, während der AWE umgekehrt einen Abzugsposten zu seinem Anspruch auf die große Kündigungsvergütung darstellt. In beiden Fällen steht die Rechtsanwendung aber vor dem Problem, wie zwei Berechnungsfaktoren – A und T – bewertet werden können, die von den Vertragsparteien nicht einvernehmlich beziffert worden sind. Diese Frage soll nun für den AWE untersucht werden.

Zwischenergebnis 7: Der AWE ist ein Produkt, das sich aus einem Zeitfaktor T und einem Wertansatz A zusammensetzt. Es gilt AWE = A x T.

 

 

1. Die Bezifferung des Zeitwerts T

a) Die entfallene Arbeitslast EAL

Ausgangswert für die Ermittlung des AWE ist die durch die Kündigung entfallene Arbeitslast (EAL). Sie ist der in Stunden anzugebende kumulierte Gesamtarbeitsaufwand, den der Unternehmer für die Erfüllung des Vertrags noch hätte erbringen müssen, wenn er nicht gekündigt worden wäre. Durch die Kündigung wird der Unternehmer hiervon befreit, sodass er innerhalb dieser Zeit anderweitig Umsatz erzielen kann. Um den Ausgleich dieses kündigungsbedingten Vorteils geht es bei dem Abzugsposten des anderweitigen Erwerbs.

Im Beispiel 4 kündigte B den Vertrag bei einem (gleichmäßig anwachsenden) Leistungsstand von 60 %. Da der Vertrag eine Gesamtarbeitslast von 1.000 Stunden umfasste, die zu 60 % erbracht war, beträgt die EAL hier 40 % von 1.000 Stunden, also 400 Stunden. Bei Vollauslastung seines Betriebs, wovon im Grundsatz auszugehen ist, hat U durch die Kündigung also 400 Stunden gewonnen, während derer er seine Arbeitskräfte auf anderen Aufträgen einsetzen kann. Dabei ist es gleichgültig, um welche anderen Aufträge es sich handelt und welcher Mitarbeiter von U wo im Einsatz ist.53

Aus dem Grundsatz der Vollauslastung folgt, dass U die kündigungsbedingte EAL im Zweifel vollständig nutzen konnte, um AWE zu erwirtschaften. Damit ist der Gesamtbetrag der EAL der Ausgangswert für die Bestimmung des Zeitfaktors T. Es kann aber sein, dass U nicht in der Lage war, die gesamte EAL seiner Arbeitskräfte anderweitig zu nutzen. Dies wird hier als eingeschränkte Aktivierung der EAL bezeichnet. In einem solchen Fall kann der Zeitfaktor T nicht mit der EAL gleichgesetzt werden. Dabei ist der Grundsatz der Vollauslastung kein Erfahrungswert,54 sondern ein praktisches Gebot. Er ist notwendig, da der Begriff des AWE nur mit seiner Hilfe sinnvoll in der Rechtsanwendungspraxis umgesetzt werden kann.

Zwischenergebnis 8: Die Zeitmenge, die ein Unternehmer durch die Kündigung eines Werkvertrags gewinnt und in der er mit seinen freigestellten Arbeitskräften anderweitig Umsatz erzielen kann, wird als entfallene Arbeitslast (EAL) bezeichnet. Aus dem Grundsatz der Vollauslastung folgt, dass der Zeitfaktor T des AWE im Zweifel der EAL entspricht.

 

 


- Ende des Auszugs -

Der vollständige Aufsatz „Der anderweitige Erwerb und seine Ermittlung – Teil IIvon Björn Retzlaff, Vorsitzender Richter am Kammergericht, erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2023, S. 1168-1180, Heft 7)Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.