Rüge erfolgreich: Bieter darf nicht "bestraft" werden!

OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.11.2021 - 11 Verg 2/21 GWB § 160 Abs. 3; VgV § 56 Abs. 2, § 57 Abs. 1

1. Bei Ermessensentscheidungen gem. § 56 Abs. 2 VgV über das Nachfordern von Unterlagen bedarf es der Abschätzung der konkret zu erwartenden Verzögerung und deren Auswirkungen auf das Verfahren. Es ist auch zu berücksichtigen, ob die Vergabestelle diese Auswirkungen durch eine frühere Nachforderung hätte abmildern oder vermeiden können.*)
2. Bei der Ermessensentscheidung ist es besonders zu berücksichtigen, wenn bei Ausschluss eines Bewerbers nur noch ein einziger Bewerber übrig bleiben wird.*)
3. Hilft die Vergabestelle einer Rüge ab, ohne dass dies von anderen Bietern erfolgreich angefochten wird, ist für das weitere Verfahren von einer berechtigten Rüge auszugehen, deren Erheben kein Kriterium bei einer zu Lasten des Rügenden gehenden Ermessensentscheidung sein kann.*)

OLG Köln, Beschluss vom 01.12.2021 - 16 U 115/21

BGB § 640 Abs. 3

 

Problem/Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) leitete ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb über die Anmietung einer Brandsimulationsanlage und die Schulung von Feuerwehrleuten zu deren Bedienung ein. Im Laufe des Verfahrens verlängerte der AG die Angebotsfrist aufgrund einer Rüge des Bieters (B). Nach Prüfung der finalen Angebote teilte der AG dem B mit, dass er dessen Angebot wegen fehlender Eignungsnachweise eines erst im finalen Angebot benannten Subunternehmers vom Verfahren ausschließe. Von einer Nachforderung habe er insbesondere aufgrund der dadurch eintretenden, weiteren Verfahrensverzögerung abgesehen. Die von B angerufene Vergabekammer verpflichtete den AG daraufhin, eine erneute Wertung der Angebote vorzunehmen. Dagegen wandte sich der AG mit der sofortigen Beschwerde.

Entscheidung

Ohne Erfolg! Das OLG Frankfurt bestätigt, dass das Angebot des B nicht nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV aufgrund fehlender Unterlagen hätte ausgeschlossen werden dürfen. Das Gericht hielt die vom AG getroffene Entscheidung, von einer Nachforderung gem. § 56 Abs. 2 VgV abzusehen unter mehreren Gesichtspunkten für ermessenfehlerhaft. Ein pauschaler Hinweis auf Verzögerungen sei unzureichend. Es hätte einer Abschätzung der konkret zu erwartenden Verzögerung und ihrer Auswirkungen auf das Verfahren bedurft. Dabei sei auch zu berücksichtigen, ob der AG die Verzögerungen hätte abmildern oder vermeiden können, etwa durch eine frühzeitigere Nachforderung. Vorliegend wäre es auch möglich gewesen, die Unterlagen binnen weniger Tage, bei Eilbedürftigkeit notfalls auch binnen weniger Stunden nachzureichen. Verfahrensverzögerungen durch von B erhobene Rügen dürften auch nicht zu dessen Lasten berücksichtigt werden, da diese aufgrund der Abhilfe durch den AG als gerechtfertigt anzusehen seien. Überdies habe der AG auch nicht berücksichtigt, dass bei Ausschluss des B nur noch ein einziger Bewerber übriggeblieben wäre.

Praxishinweis

Die Entscheidung gibt wertvolle Hinweise für die Durchführung der Ermessenentscheidung über eine Nachforderung fehlender Unterlagen. Bei seinen Erwägungen hat der Auftraggeber zu berücksichtigen, dass die Regelung des § 56 Abs. 2 VgV im Interesse eines umfassenden Wettbewerbs auf eine möglichst weitgehende Berücksichtigung von Angeboten abzielt. Die Regelung soll einen Angebotsausschluss aus nur formalen Gründen verhindern, um den Wettbewerb nicht unnötig zu reduzieren. Diese Zielrichtung wird häufig für eine Nachforderung fehlender Unterlagen sprechen. Ein Verzicht auf eine Nachforderung wird hingegen regelmäßig einer vertieften und nachvollziehbaren Begründung bedürfen.

 

RAin Dr. Jenny Rösing, Bremen und
RA Julian Müller, LL.M., Bremen

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