13 Jahre Bauprozess ist zu lang!

VerfGH Thüringen, Beschluss vom 06.10.2021 - VerfGH 7/21 GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; GVG §§ 198, 201; ThürVerf Art. 3 Abs. 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 2

1. Die Fachgerichte sind verpflichtet, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen. Es gibt keine allgemeingültigen Zeitvorgaben.
2. Ein seit mehr als 13 Jahren anhängiger Bauprozess dürfte den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Justizgewährung nicht gerecht werden.
3. Eine Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, wenn der Beschwerdeführer es versäumt hat, eine Klage auf angemessene Entschädigung für infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens erlittene Nachteile zu erheben.

VerfGH Thüringen, Beschluss vom 06.10.2021 - VerfGH 7/21

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; GVG §§ 198201; ThürVerf Art. 3 Abs. 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 2

 

Problem/Sachverhalt

Über das Vermögen einer 2004 mit der Errichtung eines Einfamilienhauses beauftragten Firma wurde 2006 das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter erhob 2008 Klage aus Werkvertrag gegen die Auftraggeber beim zuständigen Landgericht. Eine erste Verhandlung fand 2009 statt. Das Verfahren zog sich sodann über mehrere Jahre hin; 2018 rügten die Auftraggeber die überlange Verfahrensdauer und wandten sich in der Folge mehrfach an unterschiedliche Stellen mit der Bitte um Verfahrensbeschleunigung, auch aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters. Im März 2021 erhoben sie Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof (VerfGH) und rügten die Verletzung ihres Justizgewährungsanspruchs durch die aus ihrer Sicht überlange Dauer des immer noch nicht abgeschlossenen Verfahrens.

Entscheidung

Ohne Erfolg! Die Verfassungsbeschwerde ist nach Ansicht des VerfGH unzulässig. Die Auftraggeber hätten es versäumt, beim zuständigen OLG eine Klage auf angemessene Entschädigung für infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens erlittene Nachteile gem. § 198 Abs. 1, § 201 GVG zu erheben. Diese Regelungen seien zwar erst 2011 in Kraft getreten; sie fänden aber auch auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits anhängige Verfahren Anwendung. Zur Frage der Verfahrensdauer hat der VerfGH gleichwohl ausgeführt, dass die Behandlung des Klageverfahrens durch das Landgericht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Justizgewährung nicht gerecht werden dürfte. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleiste einen wirkungsvollen Rechtsschutz. Daraus ergebe sich die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Es gebe zwar keine allgemeingültigen Zeitvorgaben; die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen. Relevant seien insbesondere die Art des Verfahrens und die Wichtigkeit der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Materie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter (z. B. der Sachverständigen). Die Gerichte hätten die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Länge nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe dürfte nicht hinnehmbar sein, dass das zivilgerichtliche Verfahren auch nach über 13 Jahren noch nicht abgeschlossen sei. Es sei nicht Aufgabe des VerfGH, den Fachgerichten bestimmte Beschleunigungsmaßnahmen vorzuschreiben. Gleichwohl ließen sich Beispiele für ungenutzte Beschleunigungsmöglichkeiten feststellen; es falle etwa die verzögerte Weiterleitung von Schriftsätzen oder Gutachten auf.

Praxishinweis

Vor der Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen überlange Zivilprozesse sind zunächst alle fachgerichtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Zu denken ist - zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde - vor allem an die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen aus § 198 Abs. 1, § 201 GVG. Die Ausführungen des VerfGH zur Bewertung der Verfahrensdauer betonen zu Recht einerseits die Bedeutung der Umstände des Einzelfalls, zum anderen die mit wachsender Dauer stetig gesteigerte Beschleunigungspflicht der Fachgerichte.

 

Prof. Dr. Dr. Markus Thiel, Köln 

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