Kündigung wegen Insolvenz ja, Aufrechnung gegen Forderung aus anderem Vertrag nein!

BGH, Urteil vom 19.10.2023 - IX ZR 249/22 InsO § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 129 Abs. 1, § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 143; VOB/B § 8 Abs. 2 Nr. 2

1. Führt eine vom Besteller ausgesprochene Kündigung eines Bauvertrags aus wichtigem Grund dazu, dass sich die Forderung des Schuldners auf Werklohn und eine Gegenforderung auf Schadensersatz wegen Fertigstellungsmehrkosten aus einem anderen Vertragsverhältnis aufrechenbar gegenüberstehen, ist die Herstellung der Aufrechnungslage gläubigerbenachteiligend.*)
2. Die Wirksamkeit der Kündigung steht der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage nicht entgegen.*)

BGH, Urteil vom 19.10.2023 - IX ZR 249/22

InsO § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 129 Abs. 1, § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 143; VOB/B § 8 Abs. 2 Nr. 2

Problem/Sachverhalt

Der Besteller (B) und der Unternehmer (U) schließen im August 2017 einen Bauvertrag (V1) und einen weiteren Vertrag (V2). U stellt am 06.02.2018 Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. B erfährt davon und kündigt mit Schreiben vom 09.03.2018 V1 und V2 nach § 8 Abs. 2 VOB/B und nimmt die erbrachten Arbeiten jeweils am 21.03.2018 ab. Am 01.05.2018 wird ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des U eröffnet und ein Insolvenzverwalter eingesetzt. Dieser verlangt von B aus V2 offenen Restwerklohn i.H.v. 173.000 Euro. Hiergegen rechnet B mit (streitigen) Schadensersatzansprüchen gem. § 8 Abs. 2 Satz 2 VOB/B aus V1 i.H.v. 383.000 Euro auf.

Entscheidung

B muss den vollen Werklohn zu V2 bezahlen. Die von ihm mit angeblichen Schadensersatzansprüchen aus V1 begründete Aufrechnung ist aus insolvenzrechtlichen Gründen unzulässig. Gegenstand der Anfechtung gem. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist das Herstellen der Aufrechnungslage. Als anfechtbare Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Entstehen der Aufrechnungslage führt, insbesondere die Kündigung eines Vertrags. Durch die in Kenntnis des von U gestellten Insolvenzantrags erklärte Kündigung stellte B eine Aufrechnungslage mit etwaigen Gegenforderungen aus § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B her. Damit liegen die Voraussetzungen von § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor. Entgegen der Auffassung des B ist die insolvenzrechtliche und AGB-rechtliche Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B und der Klausel des § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (vgl. BGH, IBR 2016, 346IBR 2023, 100) von der Frage der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage zu trennen. Die insolvenzrechtliche Unwirksamkeit ergreift nur die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Herstellung der Aufrechnungslage, nicht jedoch das Grundgeschäft (hier: Kündigung). Die für eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung erforderliche Gläubigerbenachteiligung liegt beim Herstellen der Aufrechnungslage regelmäßig darin, dass die Forderung der Insolvenzmasse im Umfang der Aufrechnung zur Befriedigung einer einzelnen Insolvenzforderung verbraucht wird und insoweit nicht mehr für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung steht. Der Eintritt der Gläubigerbenachteiligung ist isoliert in Bezug auf die konkret bewirkte Minderung des Aktivvermögens oder die Vermehrung der Passiva des Schuldners (hier: U) zu beurteilen.

Praxishinweis

Eine - trotz der "Vorbereitung" durch BGH, Urteil vom 07.05 2013 - IX ZR 191/12IBRRS 2013, 2212 - Entscheidung wie ein Paukenschlag! Zwar kann, vom BGH in diesem Urteil bestätigt, ein Besteller den Bauvertrag aus wichtigem Grund nach § 8 Abs. 2 VOB/B wegen des Insolvenzantrags eines Unternehmers kündigen, aber eine hieraus resultierende Schadensersatzforderung steht nicht als "Aufrechnungspotenzial" gegen die Forderung des Unternehmers bzw. von dessen Insolvenzverwalter aus einem anderen Vertrag zur Verfügung. Selbst die Möglichkeit der Aufrechnung innerhalb ein- und desselben Vertrags (bejaht von BGH - VII. Zivilsenat -, IBR 2005, 485) ist nach den Andeutungen des IX. Zivilsenats in Rz. 15 ("Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, kann dahinstehen.") fraglich (geworden).

RA und FA für Bau- und Architektenrecht Dr. Claus Schmitz, München

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