Vorvertragliche Prüfungspflicht ist auf erkennbare Erschwernisse begrenzt!

OLG Frankfurt, Urteil vom 29.03.2018 - 22 U 104/16; BGH, Beschluss vom 29.07.2020 - VII ZR 104/18 (Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen) VOB/B § 2 Abs. 5, 6, 7

1. Eine detaillierte Leistungsbeschreibung erweckt Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Angaben. Eine Aussage dahingehend, dass Positionen vor Angebotsübernahme zu überprüfen sind, hat nicht die Bedeutung, dass das Risiko einer Abweichung vollständig vom Auftragnehmer übernommen werden soll.
2. Die Formulierung in einem Bauvertrag, wonach der Auftragnehmer "als Fachunternehmen durch eigene Besichtigungen und Untersuchungen ausreichend Gelegenheit hatte, den erforderlichen Leistungsumfang zu ermitteln", betrifft nur Offenliegendes, wie etwa die Angaben zu Flächen oder sichtbaren Materialien.
3. Auch wenn es keinen Erfahrungssatz dahingehend gibt, dass ein Auftragnehmer nur kalkulierbare Verpflichtungen eingeht, sind Mehraufwendungen, die auf falschen Angaben des Auftraggebers beruhen, durch den vereinbarten Preis nicht abgegolten. Das gilt auch bei Vereinbarung eines Pauschalpreises.
4. Hat der Auftragnehmer über die in der Leistungsbeschreibung genannten Materialen hinaus nicht beschriebene Schadstoffe gesondert zu entsorgen, steht ihm hierfür ein Anspruch auf zusätzliche Vergütung zu.

Problem/Sachverhalt

Der Auftragnehmer (AN) wird auf der Basis einer vom Auftraggeber (AG) erstellten Leistungsbeschreibung sowie eines Schadstoffkatasters mit Abbrucharbeiten zum Pauschalpreis beauftragt. Während der Ausführung der Arbeiten stellt sich heraus, dass in den Fensterlaibungen außer den nach Leistungsbeschreibung zu erwartenden KMF-Stopfmassen auch asbesthaltige Stopfmasse, sog. Blauasbest, als Füllmaterial vorhanden war. Der AN änderte daraufhin sein Arbeitskonzept und kündigte Mehrkosten an, die der AG unter Hinweis auf die in Leitsatz 2 wiedergegebene Vertragsklausel zurückwies. Der AN führte die Leistung unter dem Vorbehalt der Nachforderung aus und verlangte anschließend Mehrvergütung i.H.v. 213.000 Euro.

Entscheidung

Dem Grunde nach zu Recht! Die Beseitigung von Blauasbest gehört nicht zu dem mit dem vereinbarten Pauschalpreis abgegoltenen Leistungsumfang, so dass dem AN ein Mehrvergütungsanspruch aus § 2 Abs. 6, 7 VOB/B zusteht. Der Pauschalpreis wurde auf der Grundlage einer in jahrelanger Arbeit mit Hilfe eines Sachverständigenbüros erstellten Leistungsbeschreibung vereinbart. Es lagen also detaillierte Planungsunterlagen vor und der AN hatte nicht etwa "ins Blaue hinein" kalkuliert. In der Angebotsphase konnte vom AN auch nicht erwartet werden, dass er die Arbeiten des Sachverständigenbüros - ohne Vergütung - quasi wiederholt. Seine Prüfungspflicht betraf nur Offenliegendes (s. Leitsatz 2).

Praxishinweis

Auftraggeber versuchen immer wieder, die sich aus einer unvollständigen Ausschreibung ergebenden finanziellen und zeitlichen Risiken durch eine entsprechende Vertragsgestaltung auf den Auftragnehmer abzuwälzen. Individualvertraglich ist in diesem Zusammenhang nahezu alles möglich und zulässig (vgl. BGH, IBR 2008, 312; OLG Düsseldorf, IBR 2003, 345). Durch Allgemeine Geschäftsbedingungen können Nachtragsforderungen, deren Ursachen im Verantwortungsbereich des Auftraggebers liegen, hingegen regelmäßig nicht wirksam ausgeschlossen werden (vgl. BGH, IBR 2004, 300; OLG Hamburg, IBR 1998, 98).

 

RA Dr. Stephan Bolz, Mannheim