Sommergespräch mit Rüdiger Pamp, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof

Rechtsanwältin Jennifer Essig und Rechtsanwältin Franziska Pina von der Arbeitsgruppe junge Baurechtler:innen sprechen mit dem Vorsitzenden des VII. Zivilsenats über die Lesart von BGH-Urteilen, spektakuläre Entscheidungen, gute Schriftsätze und weitere Aspekte der Arbeit an Deutschlands höchstem Gericht.

Herr Pamp, wie sieht ihr Arbeitsalltag als BGH-Richter aus?

Landgericht, Amtsgericht, OLG, jetzt BGH – ich kenne alle Instanzen aus eigener Erfahrung, sie alle eint die ‚normale‘ richterliche Arbeit. Auch als BGH-Richter bearbeitet man Akten, recherchiert, schreibt Voten und Beschlussentwürfe, berät die Sachen mündlich im Kolleg:innenkreis. Man tauscht sich zwischendurch auch mal informell aus, diskutiert Beschlussvorlagen und dergleichen mehr. Die Gremien am BGH sind durchweg mit bis zu acht – ‚mein‘ VII. Senat aktuell sogar mit insgesamt neun – Richter:innen besetzt. Insofern gibt es viele Möglichkeiten für den kollegialen Austausch, anders als bei den mit weniger Kolleg:innen besetzten Instanzgerichten. Aber die grundsätzliche Arbeitsweise ist durchaus vergleichbar.

 

Wie kommen Entscheidungen zustande?

Alle Entscheidungen am BGH sind ‚kollegiale‘ Entscheidungen. Wir entscheiden alles, also auch die Nichtzulassungsbeschwerden – unser tägliches Brot – immer auf der Grundlage eines eingehenden schriftlichen Votums des für die Berichterstattung zuständigen Senatsmitglieds, das dann im Senat mündlich beraten wird. Wenn es Auffassungsunterschiede gibt, werden diese eingehend diskutiert. Das ist vielleicht der größte Unterschied im Vergleich zu den mit weniger Kolleg:innen besetzten Instanzgerichten: Am BGH sitzen fünf für den jeweiligen Fall berufene Senatsmitglieder zusammen und es kann schon mal eine größere Dynamik entstehen als bei nur drei beratenden Personen. Wenn sich in Einzelfällen auch nach intensiver Diskussion kein Konsens erreichen lässt, müssen wir abstimmen, wobei eine einfache Mehrheit ausreicht, um eine Entscheidung zu treffen. Wenn es um Grundsatzfragen geht, wie etwa bei der Entscheidung zu § 2 Abs. 3 VOB/B oder jüngst bei der Frage zu den Mindestsätzen der HOAI, dann wird diese Rechtsfrage als solche auch im gesamten Senat plenar beraten. Den konkreten Streitfall entscheiden aber selbstverständlich nur die fünf in der betreffenden Sache zur Entscheidung berufenen Senatsmitglieder.

 

Wie liest man ein BGH-Urteil (richtig)?

Das ist eine kleine unschuldige Frage, zu der wir durchaus ein eigenes Gespräch führen könnten (lacht). Ich würde einmal einige Punkte hervorheben, die mir besonders am Herzen liegen.

Erstens: BGH-Entscheidungen beruhen immer auf dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt, der im Grundsatz unabänderlich ist. Das gilt auch für Grundsatzentscheidungen. Wenn es eine Verfahrensrüge zum Sachverhalt gibt, die durchgreift, müssen wir die Sache wieder zurückgeben, damit daran neu gearbeitet werden kann. Mir begegnen mitunter Besprechungen von BGH-Entscheidungen, in denen davon ausgegangen wird, dass wir den Sachverhalt selber feststellen oder dass in dem konkreten Fall etwa richtigerweise von dieser oder jener Vertragskonstellation auszugehen gewesen wäre. So geht das aber nicht. Wir nehmen das Berufungsurteil und dessen Feststellungen – zu denen auch Dinge gehören, die möglicherweise nicht festgestellt, also außer Acht gelassen wurden – als Grundlage.

Platt gesagt: Was im Tatbestand des Berufungsurteils steht, das ist auch unser Tatbestand, was nicht drin steht, können wir uns nicht einfach hinzudenken. Daher sollten bei einem BGH-Urteil nicht nur die rechtlichen Aspekte, sondern immer auch der zugrundliegende Sachverhalt betrachtet werden.

Zweitens: Bedenken Sie als Rechtsanwendende immer auch, wie ein Urteil verfahrensrechtlich zustande gekommen ist. Ist die Revision nur teilweise zugelassen worden, können wir uns auch nur zu diesem Teil verhalten. Es gibt Fälle, in denen beide Parteien Revision einlegen können, aber nur eine Partei hat dieses Rechtsmittel genutzt. Dann können wir auch nur diesen Sachverhalt zugrundelegen. In beiden genannten Situationen ist dasjenige, was in Rechtskraft erwachsen ist, der Überprüfung entzogen und daher hinzunehmen.

Drittens: Der BGH entscheidet nur die Fragen, die sich spezifisch aus dem jeweiligen Fall stellen. Solche, die sich nicht stellen, werden auch nicht entschieden. Das ist gute alte BGH-Praxis, die ich schon aus meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am BGH kenne. Das bedeutet, dass wir uns nur zu den Fragen äußern, die für die Entscheidung notwendig sind. Das wird in der Praxis häufig bedauert, etwa die berühmte Frage, ob sich das, was wir zu § 2 Abs. 3 VOB/B gesagt haben, auch auf 2.4. oder 2.5 übertragen lässt. Ganz Baurechts-Deutschland wartet darauf, dass wir diese Frage beantworten. Das werden wir sicher tun – aber nur, wenn es einen Fall gibt, der bei uns anhängig ist, bei dem es auf diese Frage ankommt. Das wird viele Rechtsanwender enttäuschen, aber damit müssen wir leben.

Vierter und letzter Punkt:

Wenn eine Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) zurückgewiesen wird, bedeutet das einfach nur, dass die Beschwerde das Urteil nicht revisionsrechtlich beachtlich angegriffen hat. Das bedeutet niemals, dass ein Urteil bestätigt wird.

Manchmal lese ich, dass ein Urteil durch Zurückweisung der NZB ‚vom BGH bestätigt wurde‘. Das ist salopp gesagt natürlich Quatsch (lacht). Eine zurückgewiesene NZB bestätigt niemals das mit dieser Beschwerde angefochtene Urteil, sondern sagt nur, dass dieses Urteil der Überprüfung anhand der geltend gemachten Zulassungsgründe gemäß § 543 Abs. 2 ZPO standgehalten hat. Es bedeutet jedoch in keinem Fall, dass das Urteil richtig war. Es gibt also auch sachlich falsche Urteile, die der revisionsrechtlichen Prüfung standhalten.

Wie ich eingangs sagte, lässt sich zur Frage, wie ein BGH-Urteil ‚richtig‘ zu lesen ist, noch deutlich mehr sagen. Genau das hat mein hochgeschätzter Vor-Vorgänger Rolf Kniffka im September letzten Jahres bei den Freiburger Baurechtstagen getan. Aus seinem Vortrag ist ein Aufsatz entstanden, dessen Lektüre ich zu dieser Frage nur empfehlen kann.


Im zweiten Teil unseres Sommergesprächs mit Rüdiger Pamp spricht der Vorsitzende Richter am BGH über seinen Weg zum BGH sowie über Soft-Skills und Work-Life-Balance im Richterberuf. Zudem verrät er, wie er mit Kritik an seinen richterlichen Entscheidungen umgeht.

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Was macht aus richterlicher Sicht einen guten anwaltlichen Schriftsatz aus?

Ein guter Schriftsatz bringt in möglichst handhabbarer Kürze die entscheidenden Fragen auf den Punkt. Es sollten alle relevanten Punkte enthalten sein, aber eben nur diese. Als Revisionsrichter bin ich in der glücklichen Situation, dass alle Unterlagen durch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beim BGH ‚vorgefiltert‘ und aufbereitet werden. Ohne deren an den Zulassungsgründen unter Beachtung der Senatsrechtsprechung ausgerichtete Darstellungen wären die Aktenberge auch kaum zu bewältigen. In den Instanzakten, speziell in den Dieselsachen, die wir im Moment ebenfalls bearbeiten, sehe ich, dass es auch Schriftsätze von 200 Seiten und mehr gibt, die mithilfe künstlicher Intelligenz entstanden sind, die weitschweifig über nicht prozessrelevante Dinge schwadronieren, um die es gar nicht geht. Das sind Schriftsätze, die für die Galerie geschrieben sind oder um den Mandanten zu beeindrucken. Damit können wir nichts anfangen.

Als ich 1998 als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BGH anfing, sagte der damalige Vorsitzende des XI. Zivilsenats zu mir, dass ich in der Lage sein müsse, in jeder Sache ein Votum von maximal 20 Seiten zu schreiben; ab Seite 21 werde er aufhören zu lesen und könne meine Ausführungen daher nicht mehr berücksichtigen. Das möchte ich manchmal auch den Kolleginnen und Kollegen der Anwaltschaft zurufen (lacht).

 

An welche „bahnbrechende“ baurechtliche Entscheidung erinnern Sie sich (gerne) zurück? Was war ihr spektakulärster Fall?

In der kurzen Zeit von bislang knapp vier Jahren als Vorsitzender Richter des VII. Zivilsenats gab es schon den einen oder anderen ‚Paukenschlag‘. Dazu gehört sicher die Entscheidung zu den Mindestsätzen der HOAI. Die Art und Weise, wie wir das insgesamt behandelt haben, macht mich nach wie vor sehr zufrieden. Wir haben im Mai 2020 nicht durchentschieden, wie damals sicherlich vielfach erhofft, sondern dem EuGH vorgelegt – keine Alltäglichkeit am BGH, in der konkreten Sache aber unseres Erachtens unumgänglich. Dabei haben wir ja unsere Neigung in der Sache durchblicken lassen und wir waren sehr gespannt, ob man das in Luxemburg bestätigt. Es kam dann etwas anders, als vielfach erwartet, aber ich bin froh, dass wir schulmäßig vorgegangen sind und die unionsrechtliche Einordnung, wie das ja auch sein muss, vom EuGH vorgenommen wurde. Vor allem auch, weil es in dem Fall um eine sehr grundlegende Rechtsfrage ging, die weit über das Baurecht hinausgeht. Vielmehr ging es bei der Frage nach den Folgen der Richtlinienwidrigkeit nationalen Rechts um nichts weniger als zentrale Aspekte des Rechtsgefüges in Europa. Man kann also gut und gerne von einem ‚Paukenschlag‘ sprechen (lacht).

 

Herr Pamp, vielen Dank für den interessanten Austausch!

Rüdiger Pamp

  • Vorsitzender Richter am BGH
Wikipedia-Eintrag

Rüdiger Pamp ist Vorsitzender Richter am BGH. Seine Karriere am höchsten Gericht Deutschlands begann bereits 1998 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Nach weiteren Stationen an Instanzgerichten folgte 2010 der Ruf nach Karlsruhe. Als Bundesrichter im XI. Zivilsenat beschäftigte er sich eingehend mit dem Bank- und Kapitalmarktrecht. Dann wurde die Position des Vorsitzenden Richters des VII. Senats vakant. Pamp bewarb sich und wurde 2018 berufen. Seitdem steht unter anderem das Baurecht im Mittelpunkt seiner richterlichen Arbeit.