Mängelrüge vor Abnahmeaufforderung steht fiktiver Abnahme nicht entgegen!

OLG Schleswig, Urteil vom 10.12.2021 - 1 U 64/20 BGB § 640 Abs. 2

Eine fiktive Abnahme nach § 640 Abs. 2 BGB tritt auch dann ein, wenn der Besteller bereits vor der Fristsetzung Mängel des Werks gerügt hat. Das gilt jedenfalls dann, wenn dem Werkunternehmer keine erheblichen Mängel des Werks bekannt sind.*)

OLG Schleswig, Urteil vom 10.12.2021 - 1 U 64/20

BGB § 640 Abs. 2

 

Problem/Sachverhalt

Der Auftragnehmer (AN) wird mit Malerarbeiten beauftragt. Nach Durchführung der Arbeiten rügt der Auftraggeber (AG) auch teilweise unstreitig bestehende Mängel. Der AN sagt Nacharbeiten zu. Nach einigen Monaten fordert der AN den AG schriftlich auf, ihm die Nacharbeiten zu ermöglichen, und setzt gleichzeitig eine Frist zur Abnahme. Auf dieses Schreiben reagiert der AG nicht. Im Prozess verlangt der AN die Zahlung des Werklohns. Der AG wendet ein, es seien unstreitig Mängel vorhanden. Außerdem habe er schon während und bei der Beendigung der Arbeiten Mängel gerügt.

Entscheidung

Der Werklohnanspruch ist fällig! Die Voraussetzungen der fiktiven Abnahme nach § 640 Abs. 2 BGB liegen vor. Der AN hat dem AG nach Fertigstellung des Werks eine angemessene Frist zur Abnahme gesetzt. Binnen dieser Frist hat der AG die Abnahme nicht unter Angabe eines Mangels verweigert. Dass noch unstreitig Mängel vorhanden sind, steht der Fertigstellung des Werks und damit der Abnahme nicht entgegen. Denn das Werk kann auch fertig gestellt sein, obwohl noch Mängel vorhanden sind. Eine Abnahmefähigkeit erfordert § 640 Abs. 2 BGB nicht. Dass der AG vor dem Abnahmeverlangen bereits Mängel gerügt hat, hindert die fiktive Abnahme nicht. Der AG muss den Mangel stets binnen der Frist rügen. Eine Rüge vor Fristbeginn reicht nicht aus. Das Abnahmeverlangen des AN ist auch nicht rechtsmissbräuchlich. Das wäre nur der Fall, wenn dem AN erhebliche Mängel bekannt gewesen wären und er trotzdem die Abnahme verlangt hätte. Dies ist nicht der Fall.

Praxishinweis

Obwohl § 640 Abs. 2 BGB bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft getreten ist, sind wesentliche Fragen zum Eintritt der fiktiven Abnahme noch höchstrichterlich ungeklärt. So ist der Begriff der "Fertigstellung des Werks" schillernd und (noch) wenig greifbar. Ihm kommt aber hohe Bedeutung zu, ist er doch tatbestandliche Voraussetzung für die fiktive Abnahme. Die Abnahmereife des Werks ist für die Annahme einer Fertigstellung im Sinne der Norm, im Unterschied zu § 640 Abs. 1 Satz 3 BGB a.F., nicht mehr zu verlangen. Letztendlich soll durch das Tatbestandsmerkmal ein zu frühes Andienen des Werks durch den AN verhindert werden. Von einer Fertigstellung könnte daher auszugehen sein, wenn nach der objektiven Bewertung eines Dritten das Werk als zwar mangelhaft, aber im Wesentlichen fertig anzusehen ist (vgl. BeckOGK BGB/Kögl, § 640, Rz. 124). Ist es noch nicht als fertig anzusehen, kann die Abnahme nicht eintreten. Ob das gleichwohl erklärte Abnahmeverlangen rechtsmissbräuchlich ist, ist dann unerheblich. Aufgrund dieser Erwägungen hat das Gericht hier zutreffend angenommen, dass unstreitig bestehende Mängel der Abnahme nicht entgegenstehen. Ebenfalls zutreffend dürfte die Annahme sein, dass Mängel nur dann den Eintritt der Abnahme verhindern, wenn sie binnen der Frist geltend gemacht werden. Vorher gerügte Mängel reichen nicht. Sie wirken nicht selbstständig fort, sondern müssen zumindest innerhalb der Frist wiederholt werden. Für diese Ansicht spricht neben dem ausdrücklichen Wortlaut von § 640 Abs. 2 BGB auch dessen Sinn und Zweck: die möglichst sichere Klärung des Eintritts der Abnahmewirkungen. So ist es durchaus möglich, dass der AG frühere Mängelrügen noch mal überdacht hat oder dass schon erfolgreiche Nachbesserungsarbeiten stattgefunden haben, so dass er an der Rüge nicht mehr festhalten will (vgl. Scheuch, NJW 2018, 2513 (2516)).

 

RiLG Dr. Tobias Friedhoff, Frankfurt a.M.

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