Sachverständige und aktuelle Regeln

Kaum ein privater Baumangelprozess kann ohne die Einholung eines Sachverständigengutachtens entschieden werden. Sehr häufig begründen Sachverständige ihre Feststellungen zur Mangelhaftigkeit einer Bauleistung unter Bezugnahme auf technische Regelwerke wie z.B. DIN-Normen. Regelmäßig stellt sich dabei folgende – in der Praxis oft vernachlässigte – Frage: Müssen Sachverständige die Aktualität technischer Regelwerke bei der Gutachtenerstattung im (Bau-)Prozess von Amts wegen beachten? Dieser Frage geht Dr. iur. Mark Seibel, Vizepräsident des Landgerichts Siegen, in seinem gleichnamigen Beitrag nach, den wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Werner Verlag präsentieren.

I. Einleitung

Ein Sachverständiger wird wegen seines besonderen Fachwissens vom Gericht – gewissermaßen als dessen „Gehilfe” – damit beauftragt, die im Rechtsstreit relevanten (technischen) Fachfragen, die das Gericht nicht selbst beurteilen kann, in seinem Gutachten zu bewerten. Im privaten Bauprozess müssen dabei überwiegend technische Fragen beantwortet werden. In den allermeisten Fällen beziehen sich Sachverständige im Rahmen ihrer Gutachtenerstattung bei der Beurteilung der Qualität einer Bauleistung auf technische Regelwerke wie z.B. DIN-Normen.

Nach h.M. gilt zwar die Vermutung, dass DIN-Normen grundsätzlich den „allgemein anerkannten Regeln der Technik” entsprechen. Diese Vermutung ist jedoch nicht unumstößlich, sondern widerlegbar – was sich z.B. gut anhand der DIN 4109 nachvollziehen lässt. Auf diese Aspekte wird später noch näher eingegangen. Bei der Gutachtenerstattung im Bauprozess stellt sich in diesem Zusammenhang regelmäßig die Frage, ob sich Sachverständige mit der Bezugnahme auf ein technisches Regelwerk begnügen dürfen oder sie nicht in jedem Fall auch noch kurz überprüfen müssen, ob die einschlägige technische Vorschrift tatsächlich (noch) dem derzeit überwiegend praktizierten Vorgehen der Fachleute entspricht und nicht bereits überholt/veraltet ist. Insofern wird vereinzelt die Ansicht vertreten, die bereits erwähnte Vermutungswirkung bzgl. Technischer Regelwerke dürfe vom Sachverständigen im Prozess nur auf entsprechendes Bestreiten einer der Parteien überprüft werden.

Die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen, warum diese Auffassung unzutreffend ist. Zunächst wird kurz dargestellt, welche Bedeutung technische Regelwerke für die Beurteilung der Mangelhaftigkeit einer Bauleistung haben. Daran anschließend wird erläutert, warum es unerlässlich ist, dass Sachverständige im Rahmen ihrer Gutachtenerstattung im Prozess von Amts wegen die Aktualität und Gültigkeit technischer Regelwerke überprüfen.

II. Vorab: Bedeutung technischer Regelwerke für die Baumangelbeurteilung

Technische Regelwerke (wie z.B. DIN-Normen) sind vor allem für die Konkretisierung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik” (werkvertraglicher Mindeststandard) bedeutsam.

Der Technikstandard „allgemein anerkannte Regeln der Technik” wird – neben seiner Erwähnung z.B. in § 13 Abs. 1 Satz 2 VOB/B – insbesondere bei der Beurteilung relevant, wann sich eine Bauleistung für die gewöhnliche Verwendung eignet und wann sie eine übliche Beschaffenheit aufweist, die der Besteller/Auftraggeber erwarten kann (vgl. § 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB , § 13 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 VOB/B ). Gleichwohl ist dieser Technikstandard nicht nur dort, sondern grundsätzlich auf allen Stufen des Sachmangelrechts zu beachten – im Grunde als eigenständige 4. Sachmangelvariante.

Zur Konkretisierung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik” wird verbreitet auf schriftliche technische Regelwerke zurückgegriffen. Zusammengefasst kommen danach insbesondere folgende Konkretisierungsmöglichkeiten in Betracht:

  • DIN-Normen,
  • ETB (Einheitliche Technische Baubestimmungen des Instituts für Bautechnik),
  • VDI-Richtlinien,
  • VDE-Vorschriften,
  • Flachdachrichtlinie und evtl. auch Herstellervorschriften/-richtlinien

Vertiefung: Auch wenn schriftliche technische Regelwerke bei der Konkretisierung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik” eine große Rolle spielen, wird dieser Technikstandard nicht allein durch schriftlich niedergelegte Regelwerke konkretisiert. Trotz der in Deutschland vorhandenen „Normenflut” gibt es immer noch technische Bereiche, in denen die anerkannten und bewährten Vorgehensweisen keinen Eingang in schriftliche Regelwerke wie z.B. DIN-Normen gefunden haben, sondern allein nach den (überlieferten) Erfahrungen der Handwerker zu beurteilen sind. Als Beispiel sei hier nur das Zimmererhandwerk genannt.

Zurück zu schriftlichen technischen Regelwerken: Nach h.M. besteht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass kodifizierte technische Regelwerke (DIN-Normen etc.) die „allgemein anerkannten Regeln der Technik” wiedergeben. Der Grund für diese Vermutung liegt darin, dass technische Regelwerke in den zuständigen Gremien nach einer regelmäßig intensiven Diskussion unter den technischen Fachleuten ausgearbeitet und verabschiedet werden. Dies rechtfertigt (jedenfalls zunächst) die Vermutung, dass ein Regelwerk (zumindest zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung) der vorherrschenden Ansicht der technischen Fachleute und dem in der Praxis bewährten Vorgehen entspricht.

Diese Vermutungswirkung ist jedoch – was deutlich betont werden muss – widerlegbar! Deswegen ist die in der Praxis vielfach anzutreffende, regelrechte „DIN-Gläubigkeit” verfehlt. Es ist immer zu bedenken, dass das Einhalten der Werte der oben dargestellten technischen Regelwerke nicht zwangsläufig dazu führt, dass auch die „allgemein anerkannten Regeln der Technik” erfüllt werden. Das verdeutlicht schon der Rechtscharakter von technischen Regelwerken wie z.B. DIN-Normen: DIN-Normen sind keine Rechtsnormen, sondern (nur) private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter. Ihnen kann – da sie keine Rechtsnormqualität besitzen – daher keine zwingende Bindungswirkung im Hinblick auf die Konkretisierung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik” attestiert werden. Solche Normen können die „allgemein anerkannten Regeln der Technik” wiedergeben, jedoch auch hinter diesen zurückbleiben.

Des Weiteren ist auch stets das Alter solcher Regelwerke zu berücksichtigen: Sind z.B. DIN-Normen seit langer Zeit unverändert geblieben, stellt sich die Frage, ob diese überhaupt noch die derzeit vorherrschende Ansicht der Fachleute wiedergeben (können). Als Beispiel sei hier nur die seit einer gefühlten Ewigkeit geführte Diskussion um die DIN 4109 und die darin enthaltenen Schallschutzwerte genannt. Sollten technische Regelwerke veraltet sein, scheidet eine Konkretisierung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik” durch sie aus. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Anerkennung technischer Regeln nicht etwas einmal und für alle Zeit Festgeschriebenes darstellt. Die Anerkennung von technischen Regeln ändert sich im Laufe der Zeit und unterliegt einem ständigen Wandel. Im Baubereich wird das vor allem durch das Entdecken neuer Baustoffe und Verarbeitungsmethoden deutlich. Folge: Das Einhalten der in DIN-Normen etc. genannten Werte besagt nicht sicher, dass auch zwangsläufig die derzeit „allgemein anerkannten Regeln der Technik” beachtet werden.


Der vollständige Aufsatz „Bauverträge ohne Abnahme“ erschien zuerst in der Fachzeitschrift „baurecht“ (BauR 2016, 1085 - 1090 (Heft 7)). Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.