Sachverständige betrachten Baustelle

Stolpersteine des Sachverständigen – Das selbständige Beweisverfahren

Das selbständige Beweisverfahren ist aus der gerichtlichen Praxis nicht mehr wegzudenken. Sinn und Zweck des selbständigen Beweisverfahrens ist es, den Streitparteien zu ermöglichen, Beweisfragen außerhalb eines streitigen Hauptsacheverfahrens sachverständig klären zu lassen, um dadurch möglichst die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens vermeiden zu können.

 

In der überwiegenden Anzahl der Fälle leitet das Gericht selbständige Beweisverfahren jedoch eher am „langen Zügel“, sodass den Parteien grundsätzlich erheblicher Gestaltungsspielraum verbleibt, denn allein der Anlass und der Ausgangspunkt des selbständigen Beweisverfahrens und die Anträge der Parteien innerhalb dieses Beweisverfahrens bestimmen den Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens. Zwar sieht das Gesetz in dem formal gerichtlichen Verfahren vor, dass die Leitung des Verfahrens in den Händen des Gerichts verleibt (§§ 492 Abs. 1, 404a ZPO). Da das Gericht jedoch stets auf die Fachkenntnis und Sachkunde der Sachverständigen angewiesen ist, hat der Sachverständige auch bei seiner Gutachtenerstattung im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens eigenverantwortliche Entscheidungen über die Vorbereitung, Durchführung und den Abschluss der Begutachtung zu treffen. 

Gerade aber weil das selbständige Beweisverfahren den Parteien den Gestaltungsspielraum überlässt, sind gerichtlich bestellte Sachverständige bei der Bearbeitung solcher Gutachtenaufträge häufig mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die sie in aller Regel ohne Hilfestellung oder gar Anweisungen des Gerichts zu lösen haben. Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit typischerweise aufkommenden Problemkreisen im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens.

 

1. Sorgfältige Prüfung des Gutachtenauftrags

Mit Eingang des Gutachtenauftrags durch das Gericht beginnt bereits die eigentliche Tätigkeit des gerichtlich bestellten Sachverständigen. In der Regel wird dem Sachverständigen mit dem Gutachtenauftrag auch ein Auszug oder die gesamte Gerichtsakte nebst dem vom Sachverständigen abzuarbeitenden Beweisbeschluss übersandt und dem Sachverständigen auch bereits eine Frist, bis zu der das Gutachten spätestens zu erstatten ist, gesetzt.

Der Sachverständige hat nach Eingang des Gutachtenauftrags unverzüglich zu prüfen, ob der Gutachtenauftrag überhaupt in sein Sachgebiet fällt und/oder ob die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger erforderlich wird. Der Sachverständige ist daher verpflichtet, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in das Aktenstudium einzutreten und sich dabei auch sorgfältig mit den Formulierungen in dem abzuarbeitenden Beweisbeschluss zu befassen. Ergeben sich hieraus Anhaltspunkte, dass die Beantwortung von Beweisfragen ganz oder teilweise außerhalb der Sachkunde des beauftragten Sachverständigen liegt, hat der Sachverständige dies dem Gericht unverzüglich mitzuteilen.

Die Prüfung, ob die Beweisfragen in die eigene Sachkunde fallen, beschränkt sich dabei jedoch nicht lediglich auf die verfahrensgegenständlichen Mangelkomplexe. Auch bei vermeintlich einfachen Begleitfragen, wie bspw. die in Bausachen regelmäßig zu beantwortende Frage, welche Kosten schätzungsweise für die Beseitigung festgestellter Mängel anfallen, sollte dies sorgfältig bedacht werden. Denn auch wenn der Sachverständige grundsätzlich der Auffassung ist, dass er dazu in der Lage ist, grobe Kostenschätzungen abzugeben, muss er bereits in diesem frühen Stadium prüfen, ob der Gutachtenauftrag möglicherweise auch solche Kostenschätzungen betreffen können, die außerhalb der eigenen Sachkunde des Sachverständigen liegen.

 

2. Vergütung

Die Vergütung des Sachverständigen im Rahmen einer gerichtlich beauftragten Gutachtenerstattung richtet sich nach den Vorschriften des Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG).

Mit Eingang der Beauftragung hat der Sachverständige umgehend zu prüfen, welche Kosten voraussichtlich für die Erstattung des Gutachtens anfallen. Sollten voraussichtlich Kosten erwachsen, die erkennbar außer Verhältnis zum Wert des Verfahrensgegenstandes stehen oder einen bestimmten benannten Betrag erheblich übersteigen, ist der Sachverständige verpflichtet, dies dem Gericht mitzuteilen. Bei Missachtung der Hinweispflicht steht dem Sachverständigen eine Vergütung nur in Höhe des angeforderten Auslagenvorschusses zu (§ 8a Abs. 4 JVEG).

Da die Gebührensätze gemäß JVEG für Sachverständige heute kaum noch auskömmlich sind, begehren Sachverständige in aller Regel die Erhöhung des Verrechnungssatzes gemäß § 13 JVEG. Zwar müssen die Parteien dazu vom Gericht zunächst angehört werden. Bei angemessenen Stundenverrechnungssätzen wird in der Regel aber die Zustimmung durch die Parteien erteilt. Fehlt eine solche oder wird sie verweigert, kann das Gericht die Zustimmung auch ersetzen, so dass dem Erhöhungsgesuch des Sachverständigen regelmäßig entsprochen wird.

 

3. Inhalt des Beweisbeschlusses

Im Rahmen seiner Gutachtenerstattung hat der gerichtlich bestellte Sachverständige die im Beweisbeschluss enthaltenen Beweisfragen abzuarbeiten. Es empfiehlt sich für den Sachverständigen (aber auch für die Anwälte), dass der Beweisbeschluss frühzeitig und sorgfältig studiert wird, um mögliche Unklarheiten zu erkennen. Denn nicht selten beinhaltet der Beweisbeschluss nur die Bezugnahme auf die Antragsschrift und die in der Antragsschrift formulierten Beweisfragen. Oftmals sind Beweisfragen in der Antragsschrift aber nur unzureichend oder viel zu weit gefasst, sodass es schnell zu Unklarheiten darüber kommen kann, was vom Sachverständigen eigentlich zu begutachten ist.

Praktikabler kann auch eine Klärung direkt mit den Parteien sein, beispielsweise im Rahmen eines ersten Ortstermines. Sofern von beiden Parteien Vertreter anwesend sind, lassen sich so häufig Unklarheiten oder Unschärfen im Beweisbeschluss bzw. den Beweisfragen relativ unkompliziert und zügig lösen.

Unbedingt vermieden werden sollte jedoch, dass der Sachverständige bei Unklarheiten zunächst mit seinen Feststellungen beginnt, seine Feststellungen dokumentiert, um erst danach anhand seiner daraus gewonnenen Erkenntnisse mit den Parteien und dem Gericht zu klären, was denn nun der genaue Umfang seines Gutachtenauftrages in Bezug auf die Beweisfragen ist. Denn trifft der Sachverständige Feststellungen, die nicht vom Beweisbeschluss umfasst sind, setzt er sich der Gefahr der Befangenheit aus.

Da im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens grundsätzlich kein Anwaltszwang herrscht, aber auch vielen Rechtsanwälten*innen oftmals der pragmatische Blick fehlt, haben Sachverständige häufig Beweisbeschlüsse abzuarbeiten, in denen die Beweisfragen völlig ungeordnet und in wenig sinnvoller Reihenfolge gestellt werden. Viele Sachverständige fühlen sich jedoch dazu veranlasst, entsprechend der Reihenfolge des Beweisbeschlusses Beweisfragen abzuarbeiten, um Feststellungen zu einzelnen Beweisfragen nicht ausversehen zu vergessen.

Der Sachverständige ist jedoch nicht gehalten, seine Feststellungen in der Reihenfolge, wie der Beweisbeschluss dies vorsieht, abzuarbeiten. Er ist in der Gestaltung, wie und in welcher Reihenfolge er seine Feststellungen trifft, grundsätzlich frei.

 

4. Terminfindung

In selbständigen Beweisverfahren in Bausachen sind häufig eine Vielzahl Beteiligter involviert. Es ist daher nicht selten, dass in einem Verfahren vom Sachverständigen Rücksicht auf zehn oder mehr Beteiligte zu nehmen ist. Eine Terminfindung gestaltet sich aber auch bei wenigen Beteiligten oft schwierig.

Da jedoch bei der Durchführung von Ortsterminen grundsätzlich das Prinzip der Parteiöffentlichkeit (§57 ZPO) gilt, hat der Sachverständige Sorge dafür zu tragen, dass er die Parteiöffentlichkeit gewährleisten kann. Der Sachverständige muss sich daher für jeden von ihm beabsichtigten Ortstermin Klarheit darüber verschaffen, welche Beteiligten von ihm zu laden sind. Ein Anhaltspunkt kann, muss aber nicht das Rubrum des Beweisbeschlusses sein. Denn oftmals folgen Streitverkündungen bzw. etwaige Streitbeitritte von Streithelfern erst im Laufe des Beweisverfahrens.

Mit der Klärung, wer vom Sachverständigen alles zu laden ist, ist jedoch lediglich die erste Hürde genommen. Die eigentliche Terminfindung gestaltet sich häufig schwierig, insbesondere dann, wenn es mehr als zwei Verfahrensbeteiligte gibt. Sachverständige scheuen sich häufig, direkt Kontakt mit den Verfahrensbeteiligten aufzunehmen, weil sie befürchten, sich damit dem Vorwurf der Befangenheit auszusetzen. Eine Kontaktaufnahme des Sachverständigen mit den Parteien bzw. ihren Vertretern zur Termins- bzw. allgemeinen Verfahrensabsprache ist jedoch unbedenklich und begründet mangels konkreter Anhaltspunkte regelmäßig nicht den Anschein einer Parteilichkeit des Sachverständigen (OLG Dresden, Beschluss vom 29.06.2009, 6 W 394/09).

 

5. Der Ortstermin

Hat der Sachverständige dann mit den Parteien die Hürde der Terminfindung genommen und steht der Ortstermin fest, stellen sich für den Sachverständigen neue Probleme.

Aufgrund des Prinzips der Parteiöffentlichkeit steht es den Parteien, ihren Vertretern und gegebenenfalls sogar hinzugezogenen sachverständigen Beratern zu, an der Durchführung eines Ortstermins teilzunehmen. Nicht selten sieht sich der gerichtlich bestellte Sachverständige bei der Durchführung eines Ortstermins mit Fragen der Beteiligten konfrontiert. Der Sachverständige ist „Herr des Ortstermins“. Es ist an ihm, den Ortstermin zu leiten und seine für die Gutachtenerstattung notwendigen Tatsachenfeststellungen neutral und überparteilich zu treffen. Im Rahmen seiner Tatsachenfeststellungen ist der Sachverständige grundsätzlich nicht verpflichtet, vorläufige Einschätzungen gegenüber den Parteien abzugeben oder Hinweisen und Anregungen der Beteiligten nachzugeben.

Im Rahmen des Ortstermins darf der Sachverständige darüber hinaus auch nicht auf Mangelsuche gehen. Ist sich der Sachverständige nicht sicher, was unter einer bestimmte Beweisfrage zu verstehen ist, muss er eine Klärung, notfalls auch über das Gericht herbeiführen.

 

6. Bauteilöffnungen

Gerichtlich bestellte Sachverständige sind regelmäßig auch damit konfrontiert, dass zur Ermittlung von Mangelursachen zerstörende Bauteilöffnungen erforderlich werden, bevor die eigentlichen Feststellungen zur Gutachtenerstattung getroffen werden können.

Hält der Sachverständige zerstörende Bauteilöffnungen für seine Feststellungen für erforderlich, sollte er im Vorfeld zunächst die Frage klären, durch wen solche Bauteilöffnungen vorgenommen werden. Der Sachverständige ist nicht verpflichtet eigenverantwortlich Bauteilöffnungen zu veranlassen. Es ist Aufgabe der Parteien, dem Sachverständigen die Erfüllung seiner Tätigkeit zu ermöglichen und das erstrebte Beweisziel zu fördern (OLG Bamberg, Beschluss vom 09.01.2002 – 4 W 129/01). Der Gerichtssachverständige kann nicht im Wege der gerichtlichen Leitung seiner Tätigkeit gegen seinen Willen zur Vornahme von Bauteilöffnungen verpflichtet werden. Eine solche Anweisung ist unzulässig (OLG Frankfurt, Beschluss vom 13.11.2003 – 15 W 87/03; OLG Hamm, Beschluss vom 18.10.2005 – 26 U 16/04).

Aber auch dann, wenn Bauteilöffnungen nicht vom Sachverständigen selbst veranlasst werden, hat der Sachverständige vor Ausführung zerstörender Bauteilöffnungen stets die Einwilligung nicht nur der Parteien, sondern auch der von der zerstörenden Bauteilöffnungen betroffenen Eigentümer und unter Umständen auch der betroffenen Nutzer (beispielsweise Mieter) einzuholen.

 

7. Frist zur Gutachtenerstattung

Hat der Sachverständige schließlich seine Tatsachenfeststellungen abgeschlossen, folgt die eigentlich größere Arbeit. Er hat seine Erkenntnis und Beurteilungen in ein schriftliches Gutachten zu fassen. Hierfür wird dem Sachverständigen in aller Regel eine Frist durch das Gericht gesetzt.

Bei Nichteinhaltung der Frist bzw. Nachfrist kann das Gericht dem Sachverständigen ein empfindliches Ordnungsgeld auferlegen. Eine wiederholte Missachtung kann auch zur entschädigungslosen Entpflichtung des Sachverständigen führen. Darüber hinaus ist den meisten Sachverständigen nicht bewusst, dass auch der Sachverständige selbst für eine verspätete Gutachtenerstattung haften kann. Er haftet dann ggf. für die Schäden, die sich durch die von ihm hervorgerufene Verfahrensverzögerung ergeben (OLG Koblenz, Beschluss vom 20.01.2014 - 3 W 695/13). Auch für solche Schäden, die durch eine leichtfertige Gutachtenverzögerung entstehen haftet der Sachverständige unter Umständen auch neben dem das Beschleunigungsgebot verletzenden Gericht (OLG Koblenz, a. a. O. unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 04.11.2010, III ZR 32/10, NJW 2011, 1072).

 

8. Fazit

Eine Gutachtenerstattung im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens stellt ö.b.u.v. Sachverständigen häufig vor eine Vielzahl von Problemen, die bestenfalls nur lästig sind, im schlechtesten Fall aber auch empfindliche Konsequenzen haben können. Sind die Parteien durch erfahrene Baurechtsanwälte vertreten, kann dem Sachverständigen und dem Gericht die Arbeit aber durchaus erleichtert werden und zu einem zügigeren Abschluss des Verfahrens beitragen. Der eigentliche Sinn und Zweck einer zügigen und unkomplizierten (vorweggenommenen) Beweisaufnahme wird aber leider all zu häufig nicht erreicht. Die Anwältin oder der Anwalt sollte mit ihrer/seiner Partei daher vor Einleitung eines selbständigen Beweisverfahrens stets besprechen, ob dieses oder nicht doch ein Hauptsacheverfahren die ökonomischere Lösung sein könnte.

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Rechtsanwältin Jennifer Essig

  • Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht
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